Ein großer Tag für die Pressefreiheit – BGH erlaubt Veröffentlichung von Zitaten aus Olearius-Tagebüchern

von am 16. Mai 2023

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Urteil vom heutigen Tag (Az.: VI ZR 116/22)  einer Revision der Süddeutschen Zeitung stattgegeben und ein Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 22. März 2022 aufgehoben. Die Karlsruher Richter haben in diesem konkreten Fall die Anwendung einer Spezialvorschrift aus dem Strafrecht (§ 353d Nr. 3 StGB) abgelehnt, die für die tägliche Arbeit der Presse hinderlich ist. Danach darf aus amtlichen Dokumenten eines Gerichtsverfahrens nicht wörtlich zitiert werden, bevor die entsprechenden Textstellen nicht in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind. Im vorliegenden Fall hatte die Süddeutsche Zeitung im Rahmen einer Berichterstattung zu einer möglichen Einflussnahme der Hamburger Politik auf die dortige Finanzverwaltung aus den Tagebüchern eines wichtigen Hamburger Bankiers, Herrn Christian Olearius, zitiert. Entgegen den Vorinstanzen hat der Bundesgerichtshof die Veröffentlichung dieser Zitate nun für zulässig erachtet.

 

Der Sachverhalt
Im Rahmen des Cum-Ex-Skandals hatte die Staatsanwaltschaft unter anderem die Tagebücher des Bankiers und ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden der Hamburger Privatbank M.M. Warburg, Christian Olearius, beschlagnahmt. Gegen ihn wird wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung ermittelt. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Hamburger Politik Einfluss auf Entscheidungen der Hamburger Finanzbehörden in Bezug auf Steuerrückforderungen nach „Cum-Ex-Geschäften“ im Zusammenhang mit der Privatbank M.M. Warburg genommen haben könnte. Erster Bürgermeister zum damaligen Zeitpunkt war der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz.

Die Süddeutsche Zeitung hat über diese Anhaltspunkte berichtet und im Rahmen ihrer Berichterstattung einige wörtliche Zitate aus den beschlagnahmten Tagebüchern von Herrn Olearius veröffentlicht. Die in der SZ veröffentlichten Zitate betreffen nicht das gegen Herrn Olearius geführte Strafverfahren und geben auch keine privaten oder gar intimen Details preis. Vielmehr befassen sie sich im Wesentlichen mit den Schilderungen der Kontakte von Herrn Olearius zur Hamburger Politik – maßgeblich zum damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz.

Ein halbes Jahr vor der Veröffentlichung in der SZ hatte Herr Olearius selbst veranlasst, dass einer seiner Tagebuchauszüge in der BILD-Zeitung veröffentlicht wird, in Form eines Fotos eines handschriftlichen Auszugs aus seinen Tagebüchern.

 

Die erstinstanzlichen Entscheidungen
Das Landgericht Hamburg und das dortige Hanseatische Oberlandesgericht haben über § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit der Strafvorschrift des § 353d Nr. 3 StGB die Veröffentlichung der wörtlichen Zitate weitestgehend verboten. Die Pressekammer des Landgerichts hatte lediglich die Wiedergabe des von Herrn Olearius selbst in der BILD-Zeitung veröffentlichten Tagebuchauszugs für zulässig erachtet, der Pressesenat des Oberlandesgerichts nur zwei Zitate von seinem Verbot ausgenommen, die zwischenzeitlich in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft verlesen worden waren.

Parallel geht Herr Olearius auch gegen die ZEIT und das ARD-Magazin „Panorama“ wegen der wörtlichen Wiedergabe von Zitaten aus seinen Tagebüchern vor. Beide Verfahren befinden sich derzeit in der Berufungsinstanz vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg.

 

Die Strafvorschrift des § 353d Nr. 3 StGB
Die Strafvorschrift des § 353d Nr. 3 StGB  ist in vielerlei Hinsicht umstritten. Danach wird bestraft, wer „die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist“. Die Vorschrift soll in erster Linie die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten gewährleisten: Wer als Schöffe in einem Strafverfahren agiert, soll nicht vor der Verhandlung in der Zeitung Bestandteile der Akten lesen. Im Einzelnen ist aber Vieles umstritten – schützt die Bestimmung auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht Betroffener, was ist unter „amtlichen Dokumenten“ zu verstehen und wann handelt es sich um „wesentliche Teile“?

Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht den § 353d Nr. 3 StGB in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1985 und 2014 als verfassungskonform angesehen; zugleich hatte es aber erhebliche Zweifel an der Praxistauglichkeit der Sondervorschrift geäußert („nicht schlechterdings ungeeignet“).

 

Die Karlsruher Entscheidung
Nun hat der Bundesgerichtshof sich mit einem Paukenschlag zu Wort gemeldet und geurteilt, dass die Bestimmung in § 353d Nr. 3 StGB, so wie sie bislang und auch von den Vorinstanzen verstanden worden sei, nicht als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB angesehen werden könne. Zwar diene die Norm auch dem Schutz des von einem Strafverfahren Betroffenen vor einer vorzeitigen Bloßstellung. Nach dem Wortlaut und dem bisherigen Verständnis lasse die Norm aber die abstrakte Gefährdung der von ihr geschützten Rechtsgüter genügen. Auf die Frage, ob die Schutzgüter durch die in Rede stehende Veröffentlichung im konkreten Einzelfall tatsächlich beeinträchtigt oder gar verletzt worden sind, komme es danach nicht an; die sonst zur Feststellung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung erforderliche einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen entfalle. Es sei daher haftungsrechtlich nicht vertretbar, den zivilrechtlichen Rechtsgüterschutz in der Weise vorzuverlagern, dass die deliktische Einstandspflicht unabhängig von einer tatsächlich eingetretenen Beeinträchtigung des Schutzguts und losgelöst von einer einzelfallbezogenen Abwägung mit den entgegenstehenden Rechten Dritter aus Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK an die abstrakte Gefahr der Bloßstellung eines Verfahrensbetroffenen geknüpft werde.

Anders als die Vorinstanzen sieht der Bundesgerichtshof auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 353d Nr. 3 StGB nicht als erfüllt an. Bei den privaten Tagebuchaufzeichnungen des Klägers handele es sich gerade nicht um „amtliche Dokumente“ des Strafverfahrens. Hätte der Gesetzgeber auch Dokumente privater Urheber dem Tatbestand des § 353d Nr. 3 StGB unterstellen wollen, so hätte er dies durch die Bezeichnung „amtlich verwahrte Dokumente“ klar zum Ausdruck bringen können und angesichts seiner Verpflichtungen aus Art. 103 Abs. 2 GG auch zum Ausdruck bringen müssen.

Schließlich ergebe sich der geltend gemachte Unterlassungsanspruch auch nicht aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB. Zwar berühre die wortlautgetreue Wiedergabe von Auszügen aus den Tagebüchern des Klägers sein allgemeines Persönlichkeitsrecht in den Ausprägungen der Vertraulichkeitssphäre und des sozialen Geltungsanspruchs; dem stehe aber das überragende Informationsinteresse der Öffentlichkeit entgegen, das sich auch auf die Wiedergabe der Tagebuchaufzeichnungen im Wortlaut erstrecke. Den wörtlichen Zitaten komme ein besonderer Dokumentationswert im Rahmen der Berichterstattung zu; sie dienten dem Beleg und der Verstärkung der Aussage der Süddeutschen Zeitung.

 

Bedeutung der Entscheidung
Die Entscheidung hat weitreichende Bedeutung für die tägliche Arbeit der Presse. Die Möglichkeit für Betroffene, an sich zulässige wörtliche Zitate „über den Umweg des Strafrechts“ verbieten zu lassen, steht nun nicht mehr zur Verfügung.

In Zeiten, in denen der Vorwurf von „Fake News“ ebenso kursiert wie die von mancher Seite geäußerte Verleumdung als „Lügenpresse“, ist es für die Journalistinnen und Journalisten umso wichtiger, authentisch zu berichten. Dies geht aber nur, wenn man bestimmte entscheidende Passagen im Wortlaut zitiert und sie nicht lediglich umschreibt.

* Lausen Rechtsanwälte hat in diesem Verfahren die Süddeutsche Zeitung vertreten.

 

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