Outing nach dem Tod gegen den Willen der Betroffenen verletzt Persönlichkeitsrecht
Der Fall
Es ist eine Geschichte, die Wissenschaft und Kunst gleichermaßen fasziniert. Im Hamburger Konzentrationslager Neuengamme verliebt sich im Jahr 1944 eine gleichgeschlechtlich orientierte Aufseherin in eine jüdische Häftlingsfrau. Sie entwickelt eine Obsession, lässt sich gar in verschiedene Lager versetzen, um ihrem Schwarm zu folgen. Die Details sind unklar, aber das Interesse ist groß. Ein israelischer Dramatiker entwickelte aus der historischen Inspiration das Theaterstück Under The Skin; eine britische Wissenschaftlerin publiziert zu dem Thema und hält gut besuchte Vorträge.
Um die Frage, was sich denn wirklich zugetragen hat, ob die Liebe der Aufseherin erwidert wurde und wen das etwas angeht, entspann sich nun ein Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main.
Geklagt hatte die Tochter der im Jahr 2010 verstorbenen KZ-Inhaftierten. Sie verlangte Unterlassung der Behauptung, es habe eine sexuelle oder lesbische Beziehung ihrer Mutter gegeben zu der SS-Frau. Gestoßen hatte sich die Tochter der Verstorbenen an Vortragsankündigungen einer britischen Historikerin, welche in ihrer Kürze die Beziehung als gegeben darstellten.
Die Entscheidung
Das Landgericht Frankfurt am Main gab der Klägerin Recht. Die Wissenschaftlerin darf die Behauptung der Beziehung weder aufrechterhalten, noch den Namen oder das Bildnis der Mutter der Klägerin im Zusammenhang einer sexuellen oder lesbischen Beziehung mit der KZ-Aufseherin nutzen. Dies verletzt das postmortale Persönlichkeitsrecht der Verstorbenen. Besonders interessant: auf den Wahrheitsgehalt der Beziehungsbehauptung kam es gar nicht an. Allein das Outing gegen den Willen der Verstorbenen, die das Geschehene zu Lebzeiten geheim gehalten hatte, genügte dem Gericht für eine Verletzung der Intimsphäre.
Das postmortale Persönlichkeitsrecht wird nach deutschem Recht in zweierlei Ausprägungen geschützt. Einerseits ideell im Rahmen eines postmortalen Achtungsanspruchs, andererseits kommerziell als Vermögenswert zu Gunsten der Erben der verstorbenen Person. Hier ging es allein um den ideellen Achtungsanspruch, welcher nicht von den Erben, sondern von den Angehörigen wahrgenommen wird. Die Tochter der Verstorbenen gehört zum Kreis der Angehörigen.
Der Schutz ergibt sich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dem Leitprinzip unseres Grundgesetzes in Art. 1 Abs. 1. Es geht um den Schutz eines Lebensbildes, das sich die verstorbene Person zu Lebzeiten erworben hat. Gegen dessen Verzerrung kann sie sich nach dem Tod nicht mehr wehren. Auch wenn sich die gesellschaftliche Wahrnehmung mittlerweile in weiten Teilen gewandelt hat, ordnet das Gericht die Offenbarung einer homosexuellen Orientierung gegen den Willen der betroffenen Person dem Kernbereich der Intimsphäre zu. Eingriffe in die Intimsphäre sind keiner grundrechtlichen Abwägung zugänglich und sofort rechtswidrig. Bei der Zuordnung zu dem Bereich der Intimsphäre berücksichtigte das Gericht sowohl das öffentliche Interesse an dem Sachverhalt als auch die grundrechtlich geschützte Wissenschaftsfreiheit der Beklagten.
Keinerlei Stellung nimmt das Gericht jedoch zu dem brisanten Kontext der angeblichen Beziehung im Konzentrationslager. Aus hiesiger Sicht sollten völlig unabhängig von der sexuellen Orientierung auch der in der Beziehungsbehauptung mitschwingende Vorwurf des „Sich-Einlassens“ mit einer Vertreterin des Nationalsozialismus in persönlichkeitsrechtlicher Hinsicht eine gewichtige Rolle spielen.
Hinweise für die Praxis
Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass bei der Darstellung biographischer Aspekte einer kürzlich verstorbenen Person auch in Wissenschaft und Kunst mit höchster Vorsicht vorzugehen ist. Jedenfalls, wenn Geschehensabläufe betroffen sind, die Intim- und Privatleben der verstorbenen Person betreffen.
Der Schutz der Intimsphäre ist in zeitlicher Hinsicht nicht absolut, kann jedoch über viele Jahrzehnte bestehen. Die Schutzdauer ist einzelfallabhängig und verblasst mit der Erinnerung an die verstorbene Person. Wissenschaft und Kunst können daher nicht einfach eine fest vorgeschriebene Anzahl an Jahren abwarten bis sie persönlichkeitsrechtlich relevante Stoffe thematisieren.
Bei der Darstellung persönlichkeitsrechtlich relevanter biographischer Aspekte kann letztlich auf zwei Weisen eine Rechtsverletzung vermieden werden: entweder im Rahmen einer Einigung mit den Angehörigen vor der Veröffentlichung oder im Rahmen der zulässigen Betätigung der Freiheit von Wissenschaft und Kunst. Letztere wäre durch eine Beseitigung der Erkennbarkeit der verstorbenen Person zu erreichen. Lässt sich dies auch trotz der Veränderung von Namen und anderer Aspekte nicht völlig vermeiden, ist in jedem Fall sehr deutlich zu machen, dass die historische Person lediglich eine Inspiration für die Geschichte darstellt und die Darstellung nicht als historischer Geschehensablauf, sondern als eigenständige Fiktion zu verstehen ist. Bei der Frage, wie dies im Einzelfall bewerkstelligt werden kann und welche Restrisiken ggf. bestehen, sollte anwaltlicher Rat eingeholt werden.