Twitter, Facebook und der Rechtsstaat – über Sinn und Unsinn von Zensurängsten in Deutschland und den USA

von am 15. Januar 2021

Noch-US-Präsident Donald Trump wurde unlängst von zahlreichen sozialen Netzwerken, insbesondere seinem Lieblings-Megafon Twitter, verbannt. Nun stellen sich viele die Frage, ob sie gleiches ereilen könnte. Die Kanzlerin empfindet die dauerhafte Sperrung als problematisch, während man von rechts den Aufschrei erklingen hört, private Unternehmen dürften nun die Meinungsfreiheit abschaffen. Doch wie berechtigt sind diese Sorgen im Rechtsgefüge der Bundesrepublik?

Die rechtlichen Probleme um den Zugang zu sozialen Netzwerken sind verhältnismäßig neu. Facebook wurde im Jahr 2004 gegründet, Twitter erst 2006. Nur zehn Jahre später wurde mit der Wahl von Donald Trump bereits die enorme politische Dimension der sozialen Netzwerke unbestreitbar deutlich. Es ging hier schon lange nicht mehr vorrangig darum, mit alten Bekannten in Kontakt zu bleiben oder einen gehässigen Kommentar während des Eurovision Song Contest in die Welt zu posaunen. Stattdessen sind die nutzerstärksten sozialen Netzwerke mittlerweile die Kanäle der öffentlichen Kommunikation schlechthin. Ein Ausschluss von ihnen hat gravierende Folgen für die Meinungsfreiheit und den politischen Diskurs und muss daher strengen rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Gerade in den letzten zwei Jahren hat sich hierzu eine Rechtsprechungstendenz entwickelt, die belastbar scheint. Sie muss jedoch noch höchstrichterlich bestätigt werden. Ferner gibt es auch einzelne Entscheidungen, die das Bild ein wenig trüben.

Rechtsstaatliche Anforderungen an die Sperrung eines Social-Media-Accounts

Nach deutschem Recht erfolgt der Zugang zu sozialen Medien nicht im rechtsfreien Raum, sondern folgt den rechtsstaatlichen Regeln, die Gesetzgebung und Rechtsprechung vorgeben. Wer einen Account auf einem sozialen Netzwerk einrichtet und deren Nutzungsbedingungen akzeptiert, schließt einen Nutzungsvertrag mit dem Betreiber des Netzwerks. Diesen Nutzungsvertrag darf der Betreiber auch nicht nach Belieben kündigen oder den Zugang zum Netzwerk sperren – selbst wenn die Nutzungsbedingungen der jeweiligen Seite dies nach ihrem Wortlaut erlauben. Die Twitter-Nutzungsbedingungen etwa sehen die jederzeitige Sperrung eines Accounts „aus beliebigem Grund“ vor. Diese vollkommen willkürlich anmutende Klausel dürfte jedoch den Anforderungen der Gerichte nicht standhalten. So hat z. B. das OLG München im Jahr 2018 entschieden, dass der Nutzungsvertrag zwischen sozialem Netzwerk und Benutzer zivilrechtliche Schutzpflichten des Plattformbetreibers begründet. Nutzungsbedingungen, die diese Schutzpflichten außer Acht lassen, sind nach Auffassung des Gerichts unwirksam.

Im Rahmen der vertraglichen Schutzpflichten des Plattformbetreibers sind die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen. Diese gelten zwar direkt nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger und nicht unter Privaten wie hier. Es ist jedoch seit vielen Jahrzehnten ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Grundrechte aufgrund ihrer überragenden Bedeutung für den Rechtsstaat und das Zusammenleben in einer zivilisierten Gesellschaft auch mittelbare Wirkung unter Privaten entfalten. Man nennt dies die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Diese mittelbare Grundrechtsbindung von Privaten ist weniger weitgehend als die Bindung des Staates an die Grundrechte und steht in einem Konfliktverhältnis zur Privatautonomie und den geschützten Grundrechtspositionen eben dieser Privater. Je grundrechtsintensiver die Machtposition eines privaten Unternehmens allerdings ist, desto größer ist auch die Bedeutung der mittelbaren Drittwirkung.

Diese mittelbare Drittwirkung zeigt sich in der gerichtlichen Praxis beispielsweise folgendermaßen: in einem Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main hatte ein Facebook-Nutzer auf Aufhebung einer Account-Sperrung geklagt. Facebook tat dies unter Verwendung einer generischen Begründung, die nichts mit dem angeblichen Affront des Klägers zu tun hatte. Es ging letztlich um recht polemische Äußerungen des Klägers („pseudo-links“, „Hetzblättchen“) gegenüber einer Tageszeitung, die jedoch nach Ansicht des Gerichts noch durch die Meinungsfreiheit geschützt waren. Daher hatte die derart adressierte Zeitung sie in der Gesamtabwägung hinzunehmen. Solange sich also Äußerungen in sozialen Netzwerken im geschützten Bereich der Meinungsfreiheit bewegen und auch nicht aus anderen Gründen rechtswidrig sind, darf der Plattformbetreiber den Account nicht ohne weiteres sperren.

Die Grenzen der Meinungsfreiheit

Der Irrtum in der öffentlichen Wahrnehmung liegt jedoch vielfach in einem verfehlten Verständnis der Meinungsfreiheit. Diese ist ein enorm hohes Gut und ein überragend wichtiges Grundrecht. Im Zweifel werden Äußerungen meinungsfreundlich ausgelegt. Ihr Schutz ist generell sehr weitgehend. Polemik ist ebenso geschützt wie offensichtlich unsinnige Meinungen. Dadurch wird auch deutlich, dass die rechtliche Zulässigkeit einer Meinungsäußerung nichts über ihre Qualität oder ihre Produktivität im öffentlichen Diskurs aussagt. Der starke Schutz der Meinungsfreiheit bedeutet jedoch nicht, dass er grenzenlos ist.

Nicht geschützt sind insbesondere unwahre Tatsachenbehauptungen oder die berühmte Schmähkritik. Letztere bezeichnet eine hochgradig beleidigende Äußerung, bei der nicht mehr der Diskurs in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Zur Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik sind jedoch zwingend Anlass und Kontext der Äußerung zu beachten und zu bewerten. Nicht bei jeder Formalbeleidigung handelt es sich sofort um Schmähkritik.

Die aktuelle Aufregung um die Sperrung des Trump-Accounts gibt zudem Anlass zu der Ergänzung, dass selbstverständlich der Aufruf zu Gewalt und anderen Straftaten keine geschützte Meinungsäußerung darstellt. Sperrt ein Plattformbetreiber den Account eines Nutzers also aus solchen Gründen, spricht alles dafür, dass die Gerichte die Sperrung bestätigen würden.

Warten auf das Bundesverfassungsgericht

Ob umgekehrt allerdings jede Account-Sperrung durch schwerwiegende Verstöße gerechtfertigt werden muss, die nicht mehr durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt sind, ist noch offen. So hat das OLG Karlsruhe etwa eine 30-tägige Account-Sperrung durch Facebook wegen eines als Hassrede eingestuften Kommentares („Flüchtlinge: So lange internieren, bis sie freiwillig das Land verlassen!“) gebilligt. Das Gericht hat sich dabei nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Äußerung (gerade noch) von der Meinungsfreiheit geschützt wird. Stattdessen hat es die Facebook-Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsstandards insgesamt als die Meinungsfreiheit in angemessener Weise berücksichtigend eingestuft.

Ob das Bundesverfassungsgericht diese gegenüber den Tech-Giganten zurückhaltendere Linie mitmacht, bleibt abzuwarten. Ein Eilrechtsbeschluss aus dem Jahr 2019 lässt jedoch die Vermutung zu, dass es sich wegen der erheblichen Marktmacht der sozialen Netzwerke für eine erhöhte Grundrechtsbindung und damit eine größere Bedeutung der Meinungsfreiheit in solchen privatrechtlichen Entscheidungen aussprechen wird. Das Verfassungsgericht nennt folgende Kriterien, die für eine erhöhte Grundrechtsbindung von Plattformen eine Rolle spielen: Grad der marktbeherrschenden Stellung der Plattform, ihre Ausrichtung, Grad der Angewiesenheit auf eben jene Plattform sowie die betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter.

Unterschiede zwischen deutschem und US-amerikanischem Recht

Wer aktuell die US-amerikanische Debatte verfolgt, wird sich mit anderen rechtlichen Rahmenbedingungen konfrontiert sehen. Das US-Verfassungsrecht kennt nämlich die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte nicht. Dort wird sehr formal darauf abgestellt, dass sich das First Amendment (1. Zusatzartikel der US-Verfassung), in welchem die Meinungsfreiheit geregelt ist, nur auf das Verhältnis Bürger-Staat bezieht. Twitter und andere private Plattformen sind nicht Adressat des First Amendment und müssen es daher auch nicht beachten. Ferner ist die AGB-Kontrolle im US-Recht weitaus weniger ausgeprägt als in Deutschland. Daher würden sich US-Gerichte an den breiten Sperrerlaubnissen in den Nutzungsbedingungen wohl auch nicht stören. Beides erlaubt es den sozialen Netzwerken im Grunde vollkommen selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wem Zugang zu ihren für die öffentliche Debatte so zentralen Kanälen gewährt wird und wem nicht. Darin liegt in der Tat eine beunruhigende Machtposition, welche auch in Amerika zur Zeit eine Debatte über eine bessere Regulierung der sozialen Medien befeuert. Bei dieser wären freilich noch ganz andere Fragen als die Voraussetzungen der Account-Sperrung zu überdenken.

Fazit

In Deutschland muss sich vor Zensur derzeit niemand fürchten. Diese ist auch ausdrücklich verfassungsrechtlich verboten („Eine Zensur findet nicht statt.“). Der verfassungsrechtliche Zensurbegriff bezeichnet die staatliche Kontrolle von Meinungen und Informationen vor ihrer Veröffentlichung.

Aber auch davor, den Zugang zu wichtigen Kanälen des öffentlichen Diskurses anlasslos zu verlieren, muss es die Bundesbürger nicht ängstigen. Wer sich von Twitter, Facebook & Co. zu Unrecht gesperrt fühlt, dem steht der Rechtsweg offen. Anders als in Amerika beachten die deutschen Gerichte auch im Verhältnis zwischen Privaten die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Wer jedoch zu Gewalt aufruft oder wiederholt andere rechtswidrige Äußerungen tätigt, dem darf das Recht, am Diskurs auf einem sozialen Netzwerk teilzunehmen, entzogen werden. Ob auch Hassrede, die gerade noch als hinzunehmende Meinungsäußerung gilt, aber gegen die Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsstandards der Netzwerke verstößt, eine Account-Sperrung rechtfertigt, ist noch offen. Wenn in den kommenden Jahren mehr und mehr solcher Streitfälle durch die Gerichte entschieden werden, werden sich auch noch klarere Regeln herausbilden.

Deutlich verbesserungswürdig ist jedoch noch die Praxis der Rechtsdurchsetzung gegenüber den US-amerikanischen Tech-Giganten. Facebook und Twitter haben ihren europäischen Sitz in Irland. Wer einen Anspruch auf Aufhebung einer Account-Sperrung gerichtlich durchsetzen möchte, muss den Antrag bzw. die Klage in Irland zustellen, was mit einigen praktischen Hürden, unnötigen Verzögerungen und zusätzlichen Kosten verbunden ist. Das NetzDG, welches insbesondere Beschwerden über rechtswidrige Inhalte auf sozialen Netzwerken zum Gegenstand hat, zwingt die Plattformbetreiber zwar zur Unterhaltung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten. Ansprüche auf die Aufhebung von Account-Sperrungen fallen jedoch derzeit nicht in den Anwendungsbereich des recht eng gefassten NetzDG. Wenn die Tech-Riesen in Deutschland Standorte unterhalten, kann zwar versucht werden, über einen Gerichtsvollzieher dort zuzustellen wie in einem Verfahren gegen Google von unserem Lausen-Kollegen Dr. Thomas Glückstein unternommen. Da dieses Verfahren im Wege des Vergleichs beendet wurde, ist die Zulässigkeit einer solchen Zustellung jedoch noch nicht entschieden.

Um diese einer effektiven Rechtsdurchsetzung im Wege stehenden Praxishürden zu beenden, sollte der Gesetzgeber soziale Netzwerke generell zur Unterhaltung inländischer Zustellungsbevollmächtigter verpflichten. Ihr Einfluss auf Gesellschaft und Rechtsstaat in Deutschland ist zu groß. Ihnen sollte nicht erlaubt werden, sich hinter einem formalen Sitz in Irland zu verstecken, der die praktische Rechtsdurchsetzung unangemessen erschwert.

Dieser Beitrag ist mit der wertvollen Unterstützung des geschätzten Lausen-Kollegen Bernhard Buchner entstanden.

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